Folge 1: Der Weg von „die Wissenschaft sagt uns“ zur Behinderung der Wissenschaft und Zerstörung eines meinungsoffenen „Öffentlichen Raumes“
Die größte Gefahr für die Wissenschaft entsteht, wenn – man denke an die Corona Zeit oder das Thema Zuckersteuer – Wissenschaftler sich vor den Karren der Politik spannen lassen. Dann verlieren sie, was der Staat braucht: Ihren Abstand zur Politik und ihre Fähigkeit, durch Kritik den Politikern auf die Finger zu schauen. Stattdessen gewinnen sie die Macht und Öffentlichkeitswirksamkeit. So können diese Wissenschaftler verhindern, dass andere Wissenschaftler, mit besseren Argumenten, die falschen Aussagen korrigieren. Das erklärt auch, warum in der medizinischen Forschung falsche Ergebnisse dann häufiger veröffentlicht werden, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit besonders groß ist. Letzteres bewies die Corona-Krise.
Eine „Wissensgesellschaft“, die Wissen nicht benutzt, um seine Richtigkeit zu hinterfragen, sondern um eine Anschauung durchzusetzen, die somit das Wissen nicht wissenschaftsgerecht einsetzt, verliert die Elastizität, mit unterschiedlichen Argumenten umgehen zu können. Verlust dieser Elastizität endet in dem unversöhnlichen Aufeinanderprallen von Meinungen, dem Gefühl der Perspektivlosigkeit und Sinnverlust.
Nathalie Rassy und Kollegen veröffentlichten in JAMA den Einfluss von 4 Kategorien gesunden Lebensstils (nicht Rauchen, gesunde Ernährung, Sport, wenig Alkohol) auf das Krebsrisiko. Betont wurden im Abstrakt und den folgenden Pressemeldungen, dass Adipositas das Krebsrisiko erhöht und dies umso mehr, je weniger der 4 gesunden Lebensstilfaktoren vorhanden waren. Schaut man sich die Daten genauer an, laute die Zahlen für Leberkrebs:
4 0 (gesunde Lebensstilfaktoren)
BMI 18,5 -24,9 1 3,87
BMI > 30 2,33 1,59
Interessant ist doch nicht der bekannte Anstieg des Leberkarzinoms bei einem BMI über 30. Interessant ist, dass der höchste Anstieg bei den Normalgewichtigen auftrat, die keinen der gesunden Lebensstilfaktoren einhielten. Am interessantesten ist doch, dass Adipöse, die keinen der gesunden Lebensstilfaktoren einhielten, einen geringeren Anstieg als Normalgewichtige haben. Was könnte man aus solchen unerklärlichen Daten alles lernen! Wie viele Forschungsfragen würde man sich eröffnen können, würde man dies nicht einfach als „statistisch fraglich“ und nicht ins Dogma passend beiseiteschieben. Dogmen und festes Wissen verhindern innovative Fragestellungen!
Es gibt viele solche „unerklärlichen“ Daten in Publikationen zu Themen, bei denen Dogmen dominieren. Dazu gehört auch der Diabetes. Dies verursacht einen Druck auf Wissenschaftler, die Dogmen zu bestätigen. Schnell entsteht aus der Missachtung des Wesens von Wissenschaft, die selbstzugeteilte Großzügigkeit „alternative“ oder zumindest „teilweise“ Wahrheiten zu erfinden.
Derjenige, der sich als von einer „teilweisen Wahrheit“ betroffen empfindet, spürt mangelnde Wertschätzung und leidet unter dem Eindruck, Teil einer Gesellschaft zu sein, die ihre Existenz nicht mehr begründen kann und den Zusammenhalt und ihre Zukunftsfähigkeit verloren hat.
Folge 2: Der Weg vom „sicheren Wissen“ zur Hoffnungslosigkeit
Durch das Vertrauen auf die Möglichkeit einer immer weiteren Annäherung an die Wahrheit, entsteht die Hoffnung, dass das Morgen besser werden kann, als das Heute. Verweigert eine Gesellschaft das Hinterfragen, weil angeblich alles feststeht und Wissenschaft mit Glauben verwechselt wird, dann blockiert sie sich den Weg zur Zuversicht durch das eigene Handeln. Sie erstarrt. Sie wird hoffnungslos. Sie verliert Sinnstiftung, denn Erstarrte „sind“ nur noch, sie können nicht mehr „werden“. Erstarrte können kein Problem, wie den menschengemachten Klimawandel oder das unaufhaltsame Altern betrachten, ohne in Panik zu verfallen. Viele öffentliche Äußerungen der „Letzten Generation“ tragen die Kennzeichen von angstvoller Panik. Dies sogar zu Recht: Sie spüren, dass die für unsere Gesellschaft Verantwortlichen, ebenso wie „Die letzte Generation“ selber, nicht nach dem besten Lösungsweg suchen, sondern nach Lufthoheit in der Gestaltung der öffentlichen Debatte. Dies erschwert eine Problemlösung. Es macht zukunftsunfähig.
Eine Verhärtung der Standpunkte entsteht als Ersatz für qualitativ gute Begründungen. Angst und Hoffnungslosigkeit verstärken sich gegenseitig. Dazu ein Beispiel aus der Diabetologie: Ein Bekannter mit Typ 1 Diabetes seit über 50 Jahren leidet an einer Neuropathie. Er ist nicht bereit, seinen Blutzucker etwas weniger „normal“ einzustellen, da er überzeugt ist, dass nur Blutzuckerwerte unter 120 seine Gesundheit schützen. Er lernte als Kind, dass die Diagnose Diabetes unweigerlich das Auftreten von Folgeschäden bedeutet, wenn er seinen Glukosewert nicht normnahe einstellt. Er hat Angst und wenig Hoffnung, dass er lange leben wird.
Hoffnungslosigkeit und Angst sind nicht nur gute Gründe für Verlust der Sinnstiftung und Zuversicht, sondern auch Verlust des Mutes etwas anzupacken und ein Risiko einzugehen. Sie machen gefügig und gefährden Freiheit, denn Freiheit lebt wie die Wissenschaft vom Widerspruch. In diesem Prozess kommt es notgedrungen zur Spaltung der Gesellschaft, denn jeder ist von seinem Argument so überzeugt, dass er angesichts der Not sich berechtigt fühlt, sogar Grundrechte auszusetzen. Ein solches Thema war die Impflicht während der Corona-Zeit, andere nicht verfassungsrelevante sind Zuckersteuer (da angeblich während Corona die kindliche Adipositas so zugenommen habe, was so undifferenziert aber nicht stimmt), Werbeeinschränkungen, oder moralisch verordneter Fleischverzicht. Mit Hoffnungslosigkeit und Angst spielen Fachgesellschaften, wenn es heißt, dass 40% aller Demenzfälle und 90% aller Schlaganfälle vermeidbar wären und deswegen u.a. eine Reduktion des Zuckerkonsums gefordert wird.
Solche apodiktischen, nicht durch entsprechende Therapiestudien begründete Aussagen, wobei zwischen vermeidbar und zeitlicher Verzögerung nicht unterschieden wird, spalten die Gesellschaft in Gläubige, die teilhaben dürfen und Schwurbler, die man am liebsten an den Rand stellt und mit dem Finger auf sie zeigt.
Das wichtigste Grundrecht einer freien Gesellschaft ist die Annahme, dass jeder Mensch vernunftbegabt ist, also man seinem Argument Gehör schenken muss. Aus der Spaltung der Gesellschaft, der Zerstörung des Gefühls einer lebendigen Gemeinschaft anzugehören, wird das Gefühl, anders Denkende bekämpfen zu müssen. Der Kampf um das beste Argument verwandelt sich in einen Kampf von Meinungen und Interessen. Darunter leiden viele medizinische Fachgesellschaften.
Enttäuscht wenden sich die Bürger von der „Schulmedizin“ ab. Eine Folge ist die Kontaktierung von Personen, die mit Hilfe von alternativen Heilverfahren einfache Antworten geben. Der Populismus blüht und wird, angesichts der Unvollkommenheit seiner vereinfachten Argumente, am Ende doch zum Totengräber von Hoffnung und Weiterentwicklung.
All dies wäre vermeidbar, würde man nicht auf die Sicherheit des absolut richtigen Wissens vertrauen. Wissenschaftler könnten einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie aufzeigen, wie man trotz der Unschärfe der Erkenntnis, mit der sich immer ändernden Erkenntnis flexibel arbeiten kann. Dies gelingt, wenn Wissenschaftler sich der gegenseitigen Kontrolle ihrer Argumente unterwerfen. Dieser Prozess ist gestört. Die Begutachtung von Publikationen geschieht meist durch Personen, die ähnliche Auffassungen haben und im gleichen Feld arbeiten. Immer mehr Spezialzeitschriften werden gegründet, damit diejenigen, die einer Meinung sind, sich gegenseitig begutachten. Eine transdisziplinäre Begutachtung findet kaum statt.
Eine gegenseitig kritisch sich überprüfende Wissenschaft ist so wichtig wie die Pressefreiheit. Beides sind die allerbesten Medikamente gegen Angst, Hoffnungslosigkeit und Vertrauensverlust.
Folge 3: Der Weg vom sicheren Wissen zum Misstrauen und Bürokratiemonster
Glaubt ein Vertreter des Staates im Besitz des absolut richtigen Wissens zu sein, zu wissen, wie Dinge richtig laufen müssen, entsteht eine Gefahr: Er könnte meinen, anderen misstrauen zu dürfen und sie zwingen zu können, sich der Kontrolle durch das staatliche Wissen um das, wie man es richtig macht, zu unterwerfen. Als Folge des Misstrauens entsteht eine überbordende Bürokratie. Um die Bürokratie aufzubauen bedient man sich dann einiger „Experten“ die Regeln erstellen und die Struktur- und Prozessqualität „sichern“ – ohne einen wissenschaftlichen Beweis erbringen zu können, dass diese „Qualitätssicherung“ tatsächlich Fehler verhindert. Unbestritten ist ein gewisses Maß an Qualitätssicherung wesentlich. Doch insbesondere in der Medizin lassen sich viele Beispiele finden, wo Aufwand für Bürokratie und tatsächliche Qualitätssicherung nicht zusammengehen. Ohne das Gefühl der einen Seite „zu wissen“ wäre dieses Bürokratiemonster nie entstanden.
Auf der anderen Seite fördert eine überbordende, nicht als sinnvoll erlebte Bürokratie und Kontrolle den Verlust der intrinsischen Motivation. Daraus erwächst ein Verlust der Verantwortung für sein Tun, einem sich Ergeben in die Zwänge der Bürokratie. Das selbstständige, eigenständig-verantwortungsvolle Nachdenken wird nicht gefördert. Im Falle eines unerwarteten Ereignisses fehlt dann der Mut zum notwendigen selbstständigen Handeln – und sei es entgegen der bisher gültigen Regeln.
Regeln und Misstrauen können nicht alle Aspekte von Qualität gewährleisten. Die Gefahr entsteht, dass die Sicherheit „alles nur Menschenmögliche getan zu haben“ zur Richtschnur des Handelns wird und nicht der erreichte Erfolg. Der Glaube an die absolute Richtigkeit des eigenen Wissens kann eine Kaskade des Versagens nach sich ziehen.
Die wissensgläubigen „Wisser“ suggerieren uns, dass mithilfe ihrer Qualitätssicherung es ein risikofreies Leben gibt, wenn wir ihnen nur folgen und uns ihrer Kontrolle der Prozesse auf dem Weg zum Glück beugen. Eigenverantwortung und schöpferische Kraft werden ebenso an der Pforte einer ausufernden Bürokratie abgegeben, wie Mut und die Nutzung des eigenen Verstandes zum Widerspruch. Wissen hilft Prozesse besser zu steuern. Keine Frage. Aber so wichtig eine Qualitätskontrolle von Prozessen auch ist, sie darf nicht alles dominieren. Vor allem darf sie nicht das Gefühl erwecken, dass Risiken ausgeschlossen sind, dass es keinen Zufall mehr gibt und was zum Beispiel bei der Behandlung von Patienten so wichtig ist: Das Vertrauen in qualitätskontrollierte Prozesse und Leitlinien, darf weder das individuelle Denken über die Probleme eines Patienten ersetzen, noch die Aspekte des Intuitiven und der Erfahrung des Arztes völlig unterdrücken.
Eine zu wenig auf korrekte Prozesse achtende Gesellschaft setzt sich der Willkür, dem Zufall, der Laune eines Einzelnen, der Korruption aus. In der Medizin haben wir deswegen „Evidenzen“, die in Leitlinien den Korridor des Handelns vorgeben. Es gilt einen Mittelweg einzuschlagen, zwischen der Gefahr des nur zufälligen Einhaltens gesicherter Prozesse und der Überregulation aufgrund angeblich „gesicherten Wissens“. Wer viele Patienten behandelt hat, wer auch mit unerwartet schlechten Ergebnissen seines Tuns konfrontiert wurde, weiß dass manche auf Kunstfehler spezialisierten Anwälten diesen Mittelweg und den Korridor der Evidenz leugnen. Die Umkehr der Beweislast ist solch ein Bürokratiemonster.
Mit diesem Mittelweg, der nur mit Vertrauen möglich ist, werden übertrieben-unrealistische Erwartungen an das Ergebnis einer Handlung verhindert. Doch das bedeutet nichts anderes, als den Mut aufzubringen, den Mitbürgern und Patienten zu sagen, dass es Grenzen der Machbarkeit, Grenzen des Wissens und Grenzen der Vorhersagbarkeit von Ergebnissen gibt.
Auf Seiten der Gesellschaft gehört Mut dazu, ihren Ärzten zu trauen, damit deren eigene intrinsische Motivation zum Arztberuf zum Erfolg der Gemeinschaft beiträgt. Das Bürokratiemonster findet sonst seine Nahrung in dem falschen Glauben an die Allmacht und „Allrichtigkeit“ des Wissens und dem Misstrauen, das derjenige anderen entgegenbringt, der meint, nur er habe die Richtigkeit durch „Wissen“ gepachtet.