Aus der Wissenschaft hören wir täglich Zahlen, wie Inzidenzwerte und Todesfälle, einfach und mehrfach Geimpfte, sowie Belegung der Intensivbetten, also Zahlen anhand denen die Wissenschaftler meinen, den Politikern sagen zu können, welches der richtige Weg ist, um mit der Pandemie umzugehen. Dazu haben wir einen Gesundheitsminister, der das Expertentum mit der politischen Verantwortung meint verknüpfen zu können. Da Zahlen Fakten verstehbar machen, Menschen Zahlen verstehen können, sollte es keinen Dissens geben, sondern tatsächlich Zufriedenheit über die klare Erkenntnis und das nachvollziehbar, auf diesen Zahlen begründete, richtige Handeln vorherrschend sein. Da dies in der Tat nicht das vorherrschende Gefühl in unserer Gesellschaft ist, stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist etwas falsch, wenn man objektiv richtige Zahlen zum Handeln einsetzt?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich über das Wesen der Wissenschaft reflektieren: Die Wissenschaft hat aus Sicht des Wissenschaftlers die Aufgabe Fragen zu stellen. Stellt ein Wissenschaftler eine Frage, hinterfragt er angeblich sicheres Wissen, kann er durch Forschung etwas entdecken. Fragen zuzulassen bedeutet, der Gesellschaft die Hoffnung zu geben, dass die Zukunft durch neue Erkenntnis besser werden könnte, als die Gegenwart. Frage: Kann es sein, dass uns allen zur Zeit zu viel Hoffnung genommen wird, da zu viele, angeblich das absolute Wissen reflektierende Zahlen, das suchende Forschen und damit die Hoffnung auf künftige Fortschritte verhindern?
Um die Frage zu beantworten, lohnt es über die Bedeutung einer Zahl nachzudenken. Eine durch naturwissenschaftliche Studien gewonnene Zahl ist nur in dem Kontext richtig, in dem sie erhoben wurde. Die fragende Forschung kann immer andere Kontexte entwerfen, die vielleicht eine andere Zahl ergeben. Doch die Bedeutung der Zahl erschließt sich nicht aus ihr selber. Wen interessiert, ob der Inzidenzwert 10 oder 1000 ist? Niemanden, wenn man nicht weiß, was das für Menschen bedeutet. Also ist eine Zahl nur im Kontext der Versuchsanordnung korrekt und richtig, doch ihre Bedeutung erschließt sich nicht aus der Zahl selber. Daraus folgert, dass es Wissenschaftler braucht, die die Zahl erarbeiten. Aber da die Wissenschaft aus sich selber heraus immer neue Fragen stellt, da Antworten nur partiell die Wahrheit abbilden, hängt ihr ureigenster Blick auf das Ergebnis, also die Zahl, von ihrem Interesse an der Forschung ab. Daher sollten Wissenschaftler nicht diejenigen sein, die direkt der Politik sagen, was zu tun sei, denn ihr Blickwinkel ist zu einseitig, zu eng. Es bedarf zusätzlich derjenigen, die die von der Wissenschaft erarbeitete Zahl in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen.
Das tat am 26. 1.2022 Dr. Hauer von Verfassungsgerichtshof Wien. Als ich sein Schreiben mit 10 Fragenkomplexen zugespielt bekam, fragte ich mich zuerst, ob dies „Fake News“ seien. Doch da mehrerer Medien darüber berichteten, schien es echt zu sein. Egal ob Fake oder echt: Es sind die richtigen Fragen! Es sind Fragen, die die bisherigen „Kennziffern“ in einen breiteren Kontext stellen. Es wird gefragt nach dem Unterschied „mit“ oder „wegen“ SARS-CoV-2 erkrankt, auf Intensivstation oder gestorben. Es wird nach altersspezifischen Daten gefragt, nach Virusvarianten, nach den verschiedenen Lebensbereichen (Beruf, Familie, Freizeit), ebenso wie dem Effekt einer FFP2 Maske in geschlossenen Räumen und dem Freien. Es wird nach Angaben des Effektes der Impfung gefragt, die weit über das übliche „95% Schutz“ (Prozent von was?) hinausgehen, nach dem Zeitverlauf der Schutzwirkung bei Genesenen und Geimpften. Ebenso wird gefragt, um wieviel die Auslastung der Intensivstationen geringer wäre, gäbe es keinen Lockdown. Das ist nur ein Ausschnitt dieser Fragen, die alle eines gemeinsam haben: Die Einbettung der erhobenen Zahlen in eine andere Form der Darstellung, die uns Wissenschaftlern fremd ist: Eine Darstellung, die etwas über die Bedeutung einer durch Forschung erhobenen Zahl für den Sinn einer Maßnahme für die Bürger eines Landes aussagt.
Das ist keine Kleinigkeit, keine intellektuelle Spielerei, denn das Gelingen einer freien, demokratisch geordneten Gesellschaft hängt davon ab, dass es eine Form der Kommunikation zwischen Staat und Bürger gibt, in der der Staat dem Bürger zugesteht, Gründe für das staatliche Handeln zu verstehen. Der Staat gibt also Macht ab und unterwirft sich der Begründung seines Handelns dem zum Verstehen begabtem Bürger. Durch formulierte Gründe und Begründungen nähert man sich der Wahrheit und dem Konsens, der nötig ist, damit der Bürger die eigene Interessensoptimierung zugunsten des Gemeinwohls zurückstellt. Geht diese Form der Kommunikation verloren, verliert der Staat Akzeptanz und die Gesellschaft ihren Zusammenhalt. Da uns Wissenschaftlern alleine die Einbettung unserer immer nur partiellen Erkenntnis in Aspekte des gesamtstaatlichen Wohls nicht gelingt, kann eine Expertokratie nur ins Desaster führen.
Daher lässt sich aus den Fragen des österreichischen Verfassungsgerichtshof, ähnliches wird gerade im Gesamtbundesrat der Schweiz diskutiert, mehr als nur Hoffnung schöpfen. Es kehrt Ordnung ein. Ich als Wissenschaftler bin dankbar, dass ich forschen darf, Zahlen generieren kann, anhand derer ich meinen spezifischen, aber eingeengten Blick auf die Wahrheit beschreiben darf. Ich bin genauso froh und dankbar, dass es Juristen gibt, die ebenso wie Ethiker diese Zahlen anders dargestellt haben möchten, um eine tiefere Einsicht in die Bedeutung dieser Zahlen zu erhalten. Und nachdem Ethiker, Juristen und andere, die sich um das Funktionieren unseres Gemeinwesens kümmernden Experten über die Forschungsergebnisse nachgedacht und ihre Implikationen auf breiter Front bedacht haben, bin ich den Politikern dankbar, die dann, aber bitte auch erst dann, Entscheidungen fällen. Ich habe die große Hoffnung, dass wenn wir diese „Ordnung“ einhalten, aus dem depressiven Pandemieerlebnis noch eine Erfolgsgeschichte werden wird. Eine gemeinsam durchgestandene Gefahr, die als Erfolgsgeschichte uns hilft, Zusammenhalt und Zufriedenheit zu erleben, zu danken, dass wir in dieser Gesellschaft leben dürfen, in der so vieles möglich ist. Nur so werden wir „mit dem Virus leben“ und bei allem Leid und aller nötigen Disziplin unseren Zusammenhalt stärken können.