Gesundheit, Studien über das gute Gewissen und die Lust Böses zu tun

von Peter Nawroth

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gesundheit, dem guten Gewissen und der Lust Böses zu tun? Studien klären auf: Wir verfügen über eine Art moralisches Bankkonto. Wenn wir das Gefühl haben, dass unser Konto ausreichend durch "gute Taten" gefüllt ist, dann heben wir ab. Wir leisten uns etwas zu tun, was sonst nicht getan würde. Weder unmenschliche Politik, noch Populismus oder Fremdenfeindlichkeit sind denkbar, ohne die Fähigkeit vom Konto der moralisch guten Tat etwas abzuheben und sich einen "kleinen Ausrutscher zu gönnen". Die Wissenschaft zeigt uns, wie das moralische Konto funktioniert und lehrt, wie wenig verlässlich der Kompass unseres Gewissens ist. Eine Erkenntnis, die weit über das Thema Gesundheit in alle Bereiche der Gesellschaft hinausreicht.

Gesundheit und der Fluch der guten Tat – oder: Was macht Sauerkrautsaft mit unserem moralischen Kompass?

Der Titel einer seriösen Studie (1) lautet: „Nazis by Kraut: A playful application of moral self licensing“. Die Studie zeigt, dass das Trinken von angeblich gesundem Sauerkrautsaft die Zustimmung zu antisemitischen und anderen NS-affinen Aussagen erhöht. Alles Quatsch? Sinnlose Wissenschaft (2)? Bevor man eine solche Studie für nichtig erklärt, sollte man an den Satz von Johannes Reuchlin denken: “Verbrennt nicht, was Ihr nicht kennt!” Deswegen hier eine Einführung in den Forschungsstand, um einen Mechanismus (von vielen) zu kennen, der dazu führt, dass Menschen sich das Recht nehmen, über andere abfällig zu urteilen oder gar Böses zu tun. Wie kommt es dazu, dass wir unmoralisch handeln? Die Erklärung: Das “moralische Bankkonto”. Denkt man, es wäre voll, hebt man gerne ein wenig ab. Die gute Nachricht: Wenn man spürt, dass es leer ist, ist man bereit etwas Gutes zu tun, um es wieder zu füllen. Das eine nennt man in der Wissenschaft “Moral Self Licencing”, das Auffüllen wird durch den Begriff “Moral Self Image” erklärt.

Studien zum Abheben vom “moralischen Bankkonto”:

Um es vorwegzunehmen: Bei den Studien geht es darum zu verstehen, wieso unter bestimmten Bedingungen moralisch eindeutig schlechte Handlungen dennoch mit bestem Gewissen begangen werden. Es geht um die Frage: Wie stabil ist unser moralisches Gewissen? Was verlagert unseren moralischen Kompass? Um dies zu untersuchen, wurden wissenschaftliche Experimente durchgeführt, die beweisen, dass das moralische Konto einer von etlichen anderen Faktoren ist, der unser Verhalten bestimmt. Damit steht eindeutig fest: Der moralische Kompass in jedem von uns ist verschiebbar.

Der englische Fachbegriff für das “Abheben vom moralischen Konto” dadurch dass man sich etwas “genehmigt”, lautet „Moral-Self-Licensing“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein höchst delikates Thema wie viele Studien zeigen für uns alle. Diese Studien gehen der Frage nach, ob das Gefühl, etwas Gutes zu haben, den großzügigen Umgang mit moralischen Normen ermöglicht. Das reicht von Urteilen über andere bis zur Berechtigung Verbotenes zu tun. Von größter oder gar entscheidender Bedeutung für unser moralisches Urteilen und Verhalten ist das Wissen um den Füllstand des moralischen Kontos. Dafür gibt es Studien:

Nach Jahren der Hingabe für ihren Orden, stahl eine Nonne viel Geld von der Diözese, wozu sie sich offensichtlich durch ihre lange Dienstleistung legitimiert fühlte. Sie hatte wohl das Gefühl, dass das moralische Konto übervoll wäre und genehmigte sich, etwas vom moralischen Konto abzuheben.

Studien zum Füllen des moralischen Bankkontos:

Es gibt auch beruhigende Daten aus der Wissenschaft:

Menschen scheinen ein (jeweils subjektiv unterschiedliches Gespür für den Füllstand ihres moralischen Kontos zu haben. Sie leeren es, indem sie unmoralisch handeln, wenn das Gefühl überwiegt, das Konto sei voll. Zum Glück gibt es auch die Gegenreaktion: Das Wissen um unmoralisches Handeln stimuliert moralisches Handeln:

Ehemalige Kriminelle helfen Jugendlichen, nicht kriminell zu werden. Um in der Metapher des Kontos zu bleiben: Im Wissen um den für ihr persönliches Wohlbefinden zu niedrigen Kontostand, tun sie etwas, um das Konto aufzufüllen. Die Literatur ist voll von solchen Beispielen. Der Fachbegriff hierfür lautet: „Moral Self-Image“. Jordan und Kollegen zeigten in einer Studie, dass Menschen, die sich an ihre unmoralischen Handlungen erinnerten, vermehrt an moralischen Handlungen teilnahmen. In einer anderen Studie zeigten sie, dass Menschen mit gefühlt zu niedrigem Kontostand zu stärkeren prosozialen Verhaltensweisen tendierten. Sie neigten in psychologischen Testsituationen weniger zum Betrug. Diese kompensatorischen Effekte standen in Bezug zum Ausmaß des unmoralischen Handelns, an das man sich erinnerte. Nur die Erinnerung an das eigene unmoralische Handeln hatte moralisches Handeln zur Folge, jedoch nicht die Erinnerung an das unmoralische Handeln anderer.

Studien zum Abheben vom moralischen Bankkonto:

Eine “gute Tat” hilft das eigene moralische Konto so aufzufüllen, dass man dann leichter bereit ist, etwas abzuheben, also etwas zu tun, was man sonst nicht getan hätte. Es wurde gezeigt, dass das „gute Gewissen“ der Teilnahme an der Armenversorgung bei den Probanden die Bereitschaft zum Betrügen erhöhte. Eine andere Studie untersuchte, ob der Kauf und Konsum „grüner, umweltfreundlicher Produkte“ eine Verhaltensänderung herbeiführt:

Im Experiment I wurden 59 Studenten gebeten, die Käufer umweltfreundlicher oder konventioneller Produkte zu beurteilen. Das Ergebnis ist nicht überraschend: Den Käufern der umweltfreundlichen Produkte wurden bessere Werte für Altruismus, Kooperativität und ethisches Handeln zugeschrieben. Dieses Experiment zeigt, dass unsere eigenen Anschauungen bestimmen, wie wir über andere urteilen.

Im Experiment II wurde untersucht ob der Kauf von „grünen“ Produkten zu mehr Altruismus führt, oder Altruismus reduziert, da man durch den „grünen“ Einkauf schon Moralpunkte auf seinem Konto gesammelt hat. 156 Studenten aus Toronto wurden in einem Test „grüne“ und wahlweise konventionelle Einkaufmöglichkeiten angeboten und dann gefragt, ob sie bereit wären, einem anderen Geld zu geben. Diejenigen die im „grünen“ Geschäft einkauften, hatten eine geringere Bereitschaft, anderen Geld zu geben, als diejenigen, die in einem konventionellen Geschäft einkauften. Der „grüne Einkauf“ ließ genug Kapital auf dem Moralkonto akkumulieren, um die Bereitschaft anderen zu helfen sinken zu lassen. Ihr persönliches „Moral-Konto“ war voll genug.

Es gibt ein „Moral-Konto“, von dem man bereit ist, etwas zugunsten einer „unmoralischen“ Handlung abzuheben, sobald der individuell gewünschte Schwellenwert erreicht ist. Für den Aufbau dieses Kontos spielen gesellschaftlich positiv bewertete Verhaltensweisen wie „grüner“ Einkauf, gesunde Ernährung und bewusster Konsum eine wichtige Rolle.

Gesundheit, bewusste Ernährung und das moralische Bankkonto:

Andere Studien zeigten, dass man sich als moralisch höher einstuft, wenn man fettarme , also “gesunde” Produkte isst: Menschen, die Haferflocken essen, wurden als moralisch höherstehend eingestuft als solche, die fette Teigwaren essen. Das Füllen und Leeren des moralischen Kontos ist reziprok – es geht in beide Richtungen mit dem Bewusstsein um gesundes Verhalten: Weibel mit Kollegen fanden heraus, dass moralische Taten einem das Recht geben, etwas ungesündere Produkte zu essen, und dass die Erinnerung an unmoralisches Handeln zum Kauf „gesünderer“ Nahrungsmittel führte. Es scheint also einen Zusammenhang zwischen dem Wissen um „gesundes Essen“, der Beurteilung anderer Menschen und dem eigenen Verhalten zu geben.

Wie “gesunde Ernährung” unser Bankkonto und Einstellung zu Mitmenschen beeinflusst:

Es ging den Wissenschaftlern um die Frage, wie das Gefühl, etwas für seine Gesundheit getan zu haben, also etwas “Gutes” getan zu haben,  die Fähigkeit, zwischen moralischem und unmoralischem Handeln zu wählen, verändert. Es geht um unseren moralischen Haushalt, um unsere moralische Ökonomie, um unsere Eigenart, als Lohn für gute Taten und moralisches Handeln ein Konto aufzubauen, das es uns erlaubt, im Wissen um die eigenen guten Taten gelegentlich auch schlecht, verwerflich oder sogar unmoralisch zu handeln. Jeder bestimmt selber, ab welchem Guthaben auf dem Konto der guten Taten er sich eine unmoralische Tat erlauben kann und danach wieder eine gute Tat vollbringen muss. Es geht um die Verschiebung des moralischen Kompass durch das Bewusstsein, etwas für seine Gesundheit getan zu haben.

Die Sauerkrautsaft Studie (1) untersuchte, ob „die gute Tat“ nur dann das Moral-Konto füllt, wenn man anderen etwas Gutes erweist, oder auch, wenn man für seine eigene Gesundheit etwas Gutes tut. Sauerkrautsaft riecht und schmeckt  schlecht, enthält aber  viel Vitamin C und gilt deswegen als gesund. Aber natürlich gibt es keine Beweise, dass man dadurch Erkrankungen verhindert. Sauerkrautsaft ist auch keine anerkannte Therapie.

Die Frage für den Test lautete: Führt „gesunde Ernährung“ – repräsentiert durch das Trinken von Sauerkrautsaft – zu einer Verhaltensänderung? Getestet wurde die Zustimmung von 128 Schweizer Studenten zu Aussagen wie: „Der Anblick einer Frau mit Burka erzeugt bei mir unangenehme Gefühle“, „Ausländer, die in der Schweiz leben, belasten unser Sozialsystem“, „Aufgrund der Politik Israels habe ich Verständnis für Vorbehalte gegen Juden“, oder „der Wunsch alle öffentlichen Gebäude sollen behindertengerecht sein ist übertrieben“. Die Teilnehmer wurden gefragt, wie moralisch oder unmoralisch die Zustimmung zu diesen Aussagen ist. Verglichen wurde die Zustimmung derer die Sauerkrautsaft tranken, mit der Zustimmung derer, die Tee tranken und derer, die gar nichts tranken. Die Zustimmung zu den „rechten“ Parolen war stärker bei den Probanden, die Sauerkraft getrunken hatten. Untersucht wurde auch, ob die unterschiedlichen Reaktionen auf den schlechten Geschmack des Saftes zurückzuführen waren oder auf das Gefühl, etwas für die „Gesundheit“ getan zu haben. Der Befund: Es war das Gefühl, etwas für die Gesundheit getan zu haben. Die Autoren schließen daraus, dass das „self-licensing“, die selbst erteilte Erlaubnis, sein moralisches Guthaben zu reduzieren, auch durch das Gefühl oder Bewusstsein, sich gesund zu ernähren, beeinflusst wird.

Wissenschaftlichkeit und Fakten spielen keine Rolle bei der Füllung des moralischen Bankkontos

Die Versuche zeigen, dass das Füllen und Leeren des moralischen Kontos nicht durch gesichertes Faktenwissen gesteuert wird, sondern durch entsprechende Annahmen, denen eine solide Verifizierung fehlt oder zumindest fehlen kann. Entscheidend ist nicht der  Nachweis, dass Sauerkrautsaft tatsächlich die Gesundheit verbessert,  sondern die Annahme oder der Glaube oder, noch einmal anders gesagt: die ungeprüfte Überzeugung, dass er gesundheitsfördernd wirke. So wird Sauerkrautsaft – oder ein anderes Getränk, eine andere Speise, eine bestimmte sportliche Übung oder eine besondere Lebensweise insgesamt – zum Ausweis eines gesünderen und mithin auch moralisch besseren Lebens, aus dem dann das Recht abgeleitet wird, anderen regulierende Vorschriften zu machen. Es bleibt nicht dabei: Man nimmt sich beim Abheben zugleich aber auch das Recht, im Bewusstsein eines gut gefüllten Moralkontos gegen ebensolche Regulierungen verstoßen zu dürfen und etwa fremdenfeindlichen Parolen zustimmen oder eine Flugreise antreten zu dürfen, die man anderen als Versündigung gegen die Umwelt ankreiden würde.

Diesen Zusammenhang sollte man kennen und bei der Einschätzung von sozial regulieren wollenden Verlautbarungen und Verhaltensdemonstrationen nicht übersehen. Ihre Basis ist mitunter dürftig, die Umsetzung in der eigenen Lebenspraxis der Akteure abweichend – und dies bei bestem Gewissen. Verfügen über andere aufgrund des (eingebildeten) Füllstandes des eigenen Moralkontos – ein bisher unzureichend beachteter Aspekt des Themas „gesunde und umweltfreundliche“ Ernährung. Ein wichtiger Aspekt bei der Vorverurteilung anderer Menschen.

Diesen Zusammenhang sollte man kennen und bei der Einschätzung von sozial regulieren wollenden Verlautbarungen und Verhaltensdemonstrationen nicht übersehen. Ihre Basis ist mitunter dürftig, die Umsetzung in der eigenen Lebenspraxis der Akteure abweichend – und dies bei bestem Gewissen. Verfügen über andere aufgrund des (eingebildeten) Füllstandes des eigenen Moralkontos – ein bisher unzureichend beachteter Aspekt des Themas „gesunde und umweltfreundliche“ Ernährung.

Und was bisher zu wenig beachtet wurde: Eine fatale Konsequenz von nicht faktengesteuertem, sondern moralisierendem Argumentieren. Daraus folgt die Aufforderung: Nicht die Moralisierung eines Argumentes, sondern die Prüfung der Belastbarkeit einer Aussage ist das, was eine Gesellschaft zusammenhält und sich weiterentwickeln lässt.

Was belastbar sind diese Studien?

Kritische Anmerkungen zu diesen Studien sind nötig:

Alle Studien zu diesem Thema leiden darunter, dass sie nicht nach dem ersten Experiment die Gruppen tauschten und beispielsweise untersuchten, ob Tee einen Monat nach dem Konsum von Sauerkrautsaft bei den Probanden eine andere Reaktion auslöst. Ein weiteres Manko: Die gemessenen Unterschiede sind nicht groß – man könnte hier lange über den Unterschied zwischen der nachgewiesenen statistischen Signifikanz anhand eines p-Wertes <0,05 und der Relevanz diskutieren.

Im übrigen: Ganz neu sind diese Erkenntnisse nicht. Schon lange weiß man um das Phänomen der Bigotterie: Nach der Reue am Aschermittwoch beginnt das hoffende Warten auf den nächsten Fasching/Karneval. Wichtig sind die Erkenntnisse in einem ganz anderen Kontext: der Verknüpfung der angeblich notwendigen „gesunden Ernährung“ mit dem Kampf gegen den Klimawandel und den aus dieser Verknüpfung abgeleiteten Empfehlungen für Gebote und Verbote, für die sich kürzlich ein Minister aussprach.

Diesen Zusammenhang sollte man kennen und bei der Einschätzung von sozial regulieren wollenden Verlautbarungen und Verhaltensdemonstrationen nicht übersehen. Ihre Basis ist mitunter dürftig, die Umsetzung in der eigenen Lebenspraxis der Akteure abweichend – und dies bei bestem Gewissen. Verfügen über andere aufgrund des (eingebildeten) Füllstandes des eigenen Moralkontos – ein bisher unzureichend beachteter Aspekt des Themas „gesunde und umweltfreundliche“ Ernährung.

  1. Messner, A. Brügger: Nazis by Kraut: A playful application of moral self-licensing. Psychology 2015,6,1144-1149.
  2. Binswanger: Sauerkrautsaft macht fremdenfeindlich! Warum Experimente in Sozialwissenschaften zu immer mehr unsinniger Forschung führen. Forschung und Lehre 12/15, 1006.

Disclaimer

Für die Richtigkeit der Aussage in Bezug auf Ihre Gesundheit oder mögliche Missverständnisse kann keine Haftung übernommen werden. Daher ersetzen die Aussagen auf dieser Seite nicht das persönliche Gespräch mit Ihrem Arzt, Apotheker oder Therapeuten. Bitte handeln Sie daher nicht, bevor Sie Ihren Arzt oder Therapeuten befragt haben.