Ich verstehe die Nachrichten nicht mehr – oder: Warum ich lese. Ein ganz persönlicher Bericht

von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter P. Nawroth

Wem geht es nicht auch so wie mir? Man schaut am Abend die Nachrichten, eigentlich gewohnt, sich in dem was einem gezeigt wird, selber als Teil dieser Welt wiederzufinden. Seit einigen Wochen ist dieses Vertrauen, dass diese Welt „meine Welt“ ist, gestört. Ich denke, viele von uns haben dann die Zeit investiert, um in einem „ZDF oder ARD Spezial“ die plötzlich fremde Welt erklärt zu bekommen. Was erwartete ich: Informationen, die es mir erlauben das Handeln der Kriegsgegner zu verstehen. Verstehen bedeutet, Anlass und Motiv, Art der Durchführung und Ziel als nachvollziehbar und unausweichlich einzustufen. Nachdem ich einige Spezialisten gehört hatte, die die Geschehnisse analysieren und erklären, merkte ich, dass ich falsche Erwartungen hatte: Erklären und analysieren, hinter beiden Begriffen steckt die Vorstellung, rational nachvollziehbare Gedanken, Argumente zu hören, die helfen Ursprung, Ziel und Auswirkung des Geschehens in einem kausalen Strang zu verstehen. Ich fragte mich, warum diese Sendungen das nicht können und was ich tun könne, um mehr als nur beschreibend (was nur allzu oft mit Analyse verwechselt wird) die „neue Welt“ wahrzunehmen. Zunächst frischte ich meine Geschichtskenntnisse auf und schlug Geschichtsbücher auf, die die Wochen vor Beginn des 2. Weltkrieges beschreiben. Die Analogien waren offensichtlich, konnten mir aber nicht das „Warum jetzt schon wieder“ erklären. Dann hatte ich das Glück einen Bekannten zu treffen, einen Germanisten, der gerade diese Zeit als Spezialgebiet hat. Er riet mir zwei Bücher zu lesen. Also begann mich die Frage zu interessieren, ob es Dinge gibt, die man in der sachlichen Form der Geschichtsschreibung oder einem „ARD und ZDF Spezial“ nicht erklären, aber in einem Roman nachempfinden kann?

Das eine Buch ist von Hans Habe, es heißt „Staub im September“, erschien auch unter Tarntiteln (Tödlicher Friede; Zu Spät; Sixteen Days), es war am 26.3.1940 verboten worden. Ich las es in einer Ausgabe des Walter Verlages von 1976. Der Roman beginnt zart, mit einem Verkehrsunfall, den Anton, die Hauptfigur, mit einem Ehepaar hat. Es regnet und deshalb steigt nur der Ehemann des Unfallgegners aus dem Auto. Anton merkt, dass im Auto noch eine Frau sitzt, die er aber wegen des Regens, der am Fenster runterläuft, nicht erkennen kann. Ohne sie eindeutig zu erkennen, ist das der Beginn einer Liebesgeschichte. Auf dieser Liebesgeschichte, die in den Tagen vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges spielt, entwickelte Habe einen Roman, in dem es um das Erkennen, das Verstehen geht. Der Roman handelt von der Frage, ob man in Zeiten des Übergangs, hin zur Bereitschaft alles zu zerstören, wirklich weiß, was sein Vaterland ist (S. 52). Hans Habe erzählt von überbordenden Empfindungen und deren Bruch und dass die Menschenwürde damals auf dem Tisch eines einsamen Hauses in den bayrischen Alpen lag (S. 65). Wirkt das nicht irgendwie vertraut, wenn man heute die Nachrichten schaut? Hans Habe erzählt von den Bällen in Genf, auf denen sich die Menschen gegenseitig fragen, ob schon Krieg ist, oder noch Frieden. So wie der Übergang von Frieden zu Krieg unscharf wird, wird auch das Vaterland ein unscharfer Begriff angesichts der kommenden Gräueltaten. Anton fragt, wie kann man zwischen den einen und den anderen Deutschen unterscheiden (S. 140)? Soll man als Deutscher für oder gegen Deutschland kämpfen (S. 182)? Aktuelle Fragen! Die entscheidende Frage, ob es in Zeiten der fließenden Übergänge möglich ist, durch scharfes Erkennen der Kausalitäten zu wissen, was man tut (S. 197), greift den Anfang der Liebesgeschichte wieder auf. Es ist das immer wiederkehrende Thema dieses Romans, dass man in Umbruchzeiten nicht aufgrund stabiler Erkenntnis sich entscheiden kann, denn Dinge sind im Fluss. Kaum meint man etwas definitiv erkannt zu haben, hat es sich schon gewandelt. Der Tontauben Schütze weiß: Man darf nicht auf die fliegende Tontaube zielen, man muss „vorhalten“. Dennoch muss man sich entscheiden, darf man Mut zur Entscheidung haben, selbst in der großen Frage der Liebe, ohne sicheres Wissen über die Dinge, die nur unscharf erkennbar sind. Ein großer Roman, der aufzeigt, dass in Zeiten des Übergangs, dann wenn alles ganz stark schwimmt, Entscheidungen mit großer Tragweite gefällt werden können, der Mut zur Entscheidung nicht verloren gehen darf, selbst wenn man etwas in seiner Kausalität nicht ganz verstehen kann und das zunächst klar Erkannte zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vergangen sein kann. Hans Habe erklärt mir, dass wir Menschen weder in der Mathematik, noch im „Leben“ eine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen können. „Wenn ich gewusst hätte, dass das Knacken von einem hungrigen Löwen stammt, wäre ich rechtzeitig auf den rettenden Baum gesprungen,“ ist ein Satz mit mehr als einer Unbekannten, der nur noch aus dem „Bauch des Löwen“ gehört, aber nicht mehr lebend gesagt werden kann. Jedoch „Da ich hörte, dass es knackte und ich mir dachte, es könnte ein Löwe sein, sprang ich auf den rettenden Baum,“ ist ein Satz mit nur einer Unbekannten, den man noch lebend erzählen kann. Wer dieses Buch gelesen hat, die Stimmung von Menschen und ihren Unschärfen des Erkennens kurz vor dem Kriegsausbruch in sich aufgenommen hat, wird die Chance haben, später den zweiten Satz sprechen zu können. Nach der Lektüre erkannte ich, wo wir im Augenblick stehen und dass Unschärfe nicht bedeutet, sich nicht zu entscheiden, trotz aller Unsicherheit. Die Unschärfe des Erkennens bei fließenden Übergängen erklärt aber noch nicht vollständig, warum mir die „neue Welt“ so unerklärlich vorkommt. Neben dem Übergang muss es noch ein zweites geben, das mich von dieser „neuen Welt“ entfremdet.

Deswegen las ich das zweite Buch, um das was gerade um mich herum passiert, wenn nicht zu verstehen, dann doch wenigstens nachzuempfinden. Das Buch „Der Augenzeuge“ wurde von Ernst Weiß geschrieben (ich beziehe mich auf die Ausgabe im Suhrkamp Verlag 2017) und handelt vom Werdegang eines jungen Mannes, der Psychiater wird und dann im Lazarett zu Ende des ersten Weltkrieges Hitler betreut. Die Historiker und Mediziner diskutieren, ob Hitler damals tatsächlich an einer „hysterische Blindheit“ litt. Der Autor nimmt dies als gegeben an und entwickelt daraus seine Handlung. Der erste Höhepunkt ist die Beschreibung Hitlers im Lazarett (S.140). Er beschreibt ihn als A.H., den Eindruck neutraler Beobachtung erweckend, ein Mann der Reden im Lazarett hielt, so wie er sie später auch hielt. Nur mit einem Unterschied: Im Lazarett, also am falschen Ort, mit nur wenigen Zuhörern, wirken auf den Leser diese Reden mit ihren Lügen fast wie eine Slap Stick Komödie, deutlich an Charly Chaplins Film über den Diktator erinnernd. Der nächste Höhepunkt war, dass der Autor mich als Leser, der gerade Hitlers Rede im Lazarett komisch und deplatziert fand, in einen Hörsaal mitnimmt. Dort, einige Jahre später, A.H. war an der Macht, versetzt Ernst Weiß mich inmitten Hitlers begeisterte Zuhörer. Es gelingt dem Autor nicht nur durch die Worte der Rede Hitlers, sondern durch die Stimmung im Saal, mich nachempfinden zu lassen, wieso dieser Mann solch eine Ausstrahlung hatte. Es entsteht die Suggestion von Wahrheit. Das Entscheidende, warum dieser Roman so lesenswert ist, wird ab Seite 212 entwickelt: Die Macht der Lüge. Ohne das Buch jetzt im Detail weiter zu beschreiben, was den Zweck dieses Beitrages verfehlen würde, nämlich zum Lesen aufzufordern, möchte ich nur kurz beschreiben, was meine Gedanken bei der Lektüre waren: Die Wahrheit ist, da wahr, in irgendeiner Form überprüfbar und in gewisser Weise ein Abbild der Schöpfung. Sie ist deswegen genauso wenig Kunst, wie ein Foto aus dem Urlaub. Ganz anders die Lüge, oder die Suggestion. Sie ist eine neue Schöpfung, man meint dem Gott der Lüge bei einem schöpferischen Akt zusehen zu können und ist fasziniert. So fasziniert, wie von einem großartigen Gemälde, das etwas darstellt, was es nie zuvor gab und nie in der Natur so geben wird. Das Gemälde ist das Werk des Künstlers. Viele von uns waren schon im Museum und haben die Mona Lisa bewundert, wohl wissend, dass keine Frau einen jemals in genau der Weise anschauen wird, die das Bild weltberühmt machte.

Aus beiden Büchern lernte ich, dass wir nicht in der Lage sind, aus Übergängen definitiv, stabil wahre Fakten zu analysieren und zu verstehen und dass auf Selbstüberhöhung aufgebaute Argumentationen, Suggestionen, Lügen großartig wirken, aber Schreckliches bewirken. Die Kombination von fließendem Übergang mit einer lügenden Suggestion macht das Nachvollziehen, wie aus einem erkennbaren Grund eine Handlung zu einem rationalen Ziel führt, unmöglich. Ich verstand plötzlich, dass ich in undefinierbaren Übergängen irgendwie entscheiden muss und soll, den Mut nicht verlieren darf, weil andere ebenso – ohne rational nachvollziehbar zu wissen, was sie tun, da sie Wahrheiten verschleiern und Lügengebäude aufbauen – über mich und die Welt entscheiden. Aber diese Entscheidungen, ebenso wie das, was aus Suggestionen und Lügen in fließenden Übergängen entspringen kann, bleiben unverständlich. Doch für den, der sich in die Welt und Atmosphäre dieser beiden Romane begibt, öffnet sich die Welt des Nachempfindens. Ich merkte: Ich kann mich besser durch Nachempfinden an die „neue fremde Welt“ annähern und sie gestalten helfen, als durch Verstehen, da zwingende Kausalitäten in Lügengebäuden nicht zu finden sind. Die Zeit des Lesens war gut investiert, denn das Monströse des Unverständlichen wird diminuiert, wenn man es als erklärbar und analysierbar darstellt.

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