Seien es Diabetes Forscher, die nach einer Zuckersteuer rufen, Klimaaktivisten mit dem Ruf “Ihr müsst sofort tun, was Euch die Wissenschaft sagt“, oder ein neues Virus mit der Folge von staatlichen Eingriffen, bis hin zum vom Verfassungsgericht widerrufenen Gottesdienstverbot und sinnlosen Schließungen der Kindergärten und Lockdowns: Noch nie haben sich so viele Menschen und Politiker auf die Wissenschaft berufen! Immer mit dem gleichen Impetus: „Die Wissenschaft“ sagt uns, was garantiert richtig ist. Man nennt diese Einstellung auch Szientismus. Ohne diese falsche Wissenschaftsgläubigkeit kein Fakten-Check. Ein Fakten Check ist nichts anderes als der feste Glauben an die unverrückbare Richtigkeit einer wissenschaftlichen Aussage. Dies hemmt den Fortschritt unserer modernen Gesellschaft, zerstört ihren Zusammenhalt und fördert Fake News und Verschwörungstheorien.
Die Verführung der Wissenschaftler:
Die Sicherheit, die einst mit dem Glauben an die Aussagen der Kirchen verbunden war wurde, ebenso wie der vertrauende Glaube an verschiedene Formen der staatlichen Autorität, in den letzten Jahren durch die argumentative Wirkmacht der Wissenschaft ersetzt. Da wissenschaftliche Aussagen benutzt werden, um politische Eingriffe und Handlungen zu rechtfertigen, wird die wissenschaftliche Aussage Teil des Herrschaftsinstrumentariums. Wissenschaftler, die bereit sind, als Aktivisten für ein Thema den Herrschenden mit ihrer wissenschaftlich begründeten Argumentation das Tor zur Macht weit aufzustoßen, gibt es genug. Gibt die Politik ihnen die Chance, diesen Weg zu einzuschlagen, verführt die Politik diese Wissenschaftler. Sie sind dann nicht mehr Wissenschaftler, sondern als Wissenschaftler verkleidete politische Aktivisten. Sie schaden sogar der Wissenschaft, da die Wissenschaft vom Hinterfragen lebt und eine unverrückbare Aussage eine Veränderung von Wissenschaft in ein Dogma darstellt. Die Unverrückbarkeit ihrer Aussage schadet der Gesellschaft, denn wie die Wissenschaft, lebt auch die Gesellschaft von der Dynamik sich ändernder Fragen, Einstellungen und Auffassungen.
Die Verführung der Politiker:
Politiker repräsentieren den Willen des Volkes. Sie übernehmen Verantwortung, insbesondere, wenn es um schwierige, viele Menschen betreffende Entscheidungen geht. Der Ruf von Politikern „Wir folgen der Wissenschaft …“ ist daher nichts anderes, als ein Wegducken vor der eigenen Verantwortung.
Das Problem:
Vom Klimawandel bis SARS-CoV-2 oder der angedachten Besteuerung mit Zucker gesüßter Getränke: Nie erlaubten Menschen es so wie heute, dass „Die Wissenschaft sagt uns ….“ in unser Leben eingreift. Man muss sich nur bewusst sein, dass es „Die Wissenschaft sagt uns …“ nicht gibt, denn die Interpretation von erhobenen Daten ist immer vom jeweiligen Blickwinkel abhängig. Ein Soziologe sieht Zahlen zum Thema Arbeitslosigkeit aus einem anderen Blickwinkel als ein Mediziner. Die Wissenschaft lebt von unterschiedlichen Blickwinkeln. Nur die führen zu neuen Fragen. Wissenschaft und der durch sie ermöglichte Fortschritt lebt nicht vom Konsens und der Einheit der Meinung. Wissenschaft ist immer Meinungsvielfalt. Die Zukunftsherausforderung lautet: Wie gehen wir mit wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Nutzung durch Aktivisten und Mächtige um?
Der historische Vergleich:
Das Problem ist nicht neu. Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt und man deswegen nicht aus der Geschichte lernen kann, ist es dennoch möglich, aus Problemlösungen vergangener Jahrhunderte etwas für die heutigen Probleme zu lernen:
Im Mittelalter wurden Aussagen zum Christentum, also theologische Erkenntnisse, als Basis für Eingriffe in das Leben jedes Menschen genutzt. Damals waren theologische „Erkenntnisse“, vergleichbar zu dem heutigem „Die Wissenschaft sagt uns …“, nicht diskutierbare Pflöcke. Fest eingeschlagen in das Leben der Menschen. Es waren Pflöcke, die unverrückbar feststanden. Jede Hinterfragung verbot sich. Heute sind es Aussagen über angeblich nicht widerlegbare naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die das Handeln und Argumentieren von Aktivisten und Regierenden prägen. Die Corona-Zeit bleibt wegen des leichtfertigen, weil unberechtigten Umgangs mit Freiheitsrechten ebenso in Erinnerung, wie die Diffamierung Andersdenkender während dieser Zeit und die Moralisierung Andersdenkender in politischen Debatten – sei es beim Thema Umwelt, Ernährung oder Zuckersteuer.
Man könnte denken: So mächtig war „die Wissenschaft“ seit Jahrhunderten nicht! Doch nicht die Wissenschaft ist mächtig, sondern diejenigen sind mächtig, die die angeblichen Erkenntnisse argumentativ einsetzen und gläubigen Gehorsam erwarten. Damals wie heute: Zuerst litt die Wissenschaft, denn ohne Hinterfragung gib es keinen Fortschritt. Dogmen sind Hemmnisse jeder Form der Weiterentwicklung (das gilt auch für die Theologie). Darunter leidet die Gesellschaft. Damals wie heute. Alles spricht dafür, dass Wissenschaft heute genauso missbraucht wird, wie im Mittelalter. Das Grundübel ist damals wie heute identisch: Die Wissenschaft stellt Fragen, um durch neue Antworten Menschen die Hoffnung auf ein besseres „Morgen“ zu ermöglichen. Wäre die Erkenntnis, so wie Politiker und Aktivisten uns glauben lassen endgültig, gäbe es weder Forschung, noch Hoffnung auf ein besseres „Morgen“. Die Fremdnutzung der Wissenschaft und einzelner Erkenntnisse der Wissenschaft waren schon im Mittelalter ein Thema. Schon damals beeinflussten Machtstrukturen Aussagen der Wissenschaft. Und Dogmen der Pseudo-Wissenschaft beeinflussten scon damals Machtstrukturen. Eine Revloution der Wissenschaft wurde im Mittelalter zum Wegbereiter einer Veränderung der Gesellschaft. Warum: Weil sie innovative, spannende, aufregende, ganz unerwartete Erkenntnisse brachte.
Den Weg zur Wissenschaftsrevolution und Veränderung der Gesellschaft beschreibt das kundige, leicht lesbare Buch von Professor Frank Rexroth mit dem Titel „Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters“, erschienen im Beck Verlag 2018. Wer dieses Buch liest, wird es kaum aus der Hand legen wollen, so spannend ist der Weg von 1070, als die Eigenarten des Wissens erst richtig verstanden wurden und daraus die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Die Falsifikation, der Irrtum, der Nachweis eines Fehlers wurde zum Markenkern der Wissenschaft, der auch heute noch die Wissenschaft prägt. Die Freiheit zum Denken, die Freiheit ganz anders zu denken, bedurfte eines geschützten Ortes. Dieser Ort wurde damals die neu gegründete Universität. Sie wurde das Haus des Disputs und des Widerspruchs, der Weiterentwicklung des Wissens durch Hinterfragen. Die Universität bot das Haus, in dem sich Fachleute verschiedener Disziplinen trafen und voneinander lernten. Die Universität bot den geschützten Raum für den Streit der Gelehrten, der zu neuen Fragen, dem Verwerfen alter Erkenntnisstandards und zu neuen Ansätzen führte, wie man die Welt verstehen und verbessern kann.
So kam es zu einer Explosion des Wissens und der Erkenntnis, mit der Konsequenz der Aufspaltung der wissenschaftlichen Disziplinen. Aber: In dem Haus der Universität blieben sie versammelt und im Austausch. Ein Weg von der Autorität des absolut richtigen Wissens, das ein Lehrer seinen Schülern schenkt, die es dann unverändert weitergeben müssen, zu einer Kultur des Widerspruchs, der Erneuerung, der immer weiter schreitenden Forschung. Der Streit, der Wettkampf unterschiedlilcher Meinungen war die eine Wurzel der damaligen Explosion der Wissenschaften. Die Interdisziplinarität, die Verschiedeneartigkeit der Blicke auf ungelöste Fragen wurde zur zweiten Wurzel des Fortschritts der Wissenschaften.
Wer daran zweifelt, dass dieses Thema hochaktuell ist, sei darn erinnert, dass viele Fehler und „Kollateralschäden“ der Corona-Krise hätten vermieden werden können, wenn die beiden Wurzeln der Erkenntnisexplosion im Mittelalter, nämlich der offen ausgetragene Streit und die Interdisziplinarität, damals von den beiden Gesundheitsministern während der Corona Krise beherzigt worden wären. Statt dessen erlebten wir eine gezielte Auswahl von Experten und eine moralisierte Anschauung, was man denken darf und was nicht.
Der Ausblick:
Wer sich über die Überzeugungs-Sicherheit der Aktivisten und „Die Wissenschaft sagt uns …“ Politiker wundert oder Regierungshandeln in der Covid-Krise nicht verstand, wird nach Lektüre dieses Buches erkennen, dass die Themen, die heute die Wissenschaft bewegen, ähnlich den Themen sind, die die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters ausmachten. Von ihr profitieren wir noch heute. Es sind ganz ähnliche Themen, verwandte Mechanismen, allzu menschliche Verhaltensweisen, die den Umgang mit Wissen bestimmen. Im Mittelalter führte dies zu einem Quantensprung im Umgang mit Wissen. Und was machen wir heute? Wenn nicht jetzt ein Buch über Wissenschaftsgeschichte lesen – wann dann? Wenn nicht jetzt die Bedeutung einer Volluniversität für die Integrität des Umgangs mit Wissen und der kritischen Bewertung der Herleitung des Wissens erkennen, wann dann? Warum nicht jetzt nachdenken über den Unterschied zwischen Wissen (das statisch ist) und der Herführung eines Beweises (was ein dynamischer Prozess ist).