Diesen Roman sollte man unbedingt lesen! Dieser Roman des Literatur-Nobelpreisträgers von 2002 ist ganz anders geschrieben. Er arbeitet nicht mit der Beschreibung des Grauens, dem Versuch das Grauen noch dramatischer als andere darzustellen. Er beeindruckt nicht durch Bilder, die einem nachts nicht aus dem Sinn gehen. Er beeindruckt durch eine natürlich wirkende, gut lesbare, dabei brillant klare Sprache, in der im Nebensatz der Kontrast erzielt wird, der diesen Roman so lesenswert und beeindruckend macht.
Das Besondere an diesem Roman ist ein ungewöhnliches Stilmittel: Kertész beschreibt nicht das Grauen. Er reproduziert es in frappierender Weise als eine Normalität, die ihm hilft diese Zeit zu überleben. Er schildert das was ihm und anderen widerfuhr unter dem Aspekt des „Verständlicherweise ist es so“. Er war bereit, sein Ich zu verlieren, um ohne an Verzweiflung zu zerbrechen, schicksallos zu überleben. Mittels der Beschreibung einer neuen Normalität in Zwangsarbeit und Konzentrationslagern, gelingt dem Autor mehrerlei:
- Während der Autor Unsägliches als Normalität akzeptiert, läuft im Hinterkopf des Lesers ein Film: Das was da beschrieben wird, ist aber gar nicht normal, akzeptabel und verständlich. Der Kontrast zwischen Erzählung und eigenem Wissen verdeutlicht das Wichtige.
- Der Autor leistet einen Beitrag zur Frage: Was ist einzigartig an diesen Gräueltaten? Mit Sicherheit das einzigartige Schicksal jedes Betroffenen und seiner Angehörigen. Diese unerwartet sachliche Form der Beschreibung als „normal“, was nie normal sein dürfte, weist auf eine zweite Ebene: Wie wurde es möglich, dass manche Menschen, also die Täter und Mitläufer, das was in den Konzentrationslagern geschah, als normal ansahen? Offensichtlich war – und ist – es möglich, Menschen die perversesten Zustände als tolerabel erscheinen zu lassen. Es bedarf nur einer wirkungsvollen Verschleierungstechnik und der Versperrung von Alternativen. Der junge Kertész wird in eine perverse Normalität deportiert und ist verurteilt, sie verständnis- und willenlos auszuhalten. Heute müssen Hunderttausende von jungen Menschen eine „militärische Spezialoperation“ mitmachen, als normal bezeichnen und einen Krieg der keine “Spezialoperation” ist über sich ergehen lassen. Kertész’ Roman bringt Licht in die düstere Mechanik solcher Vorgänge.
- Wer den Roman gelesen hat, versteht: Normalität zu erzeugen ist eine andere Ebene der Einzigartigkeit solcher Gräueltaten. Dadurch, dass der Blick des Lesers auf die Gefährlichkeit gerichtet wird, die in dem nicht überprüfenden Akzeptieren des “neuen Normalen” liegt, auch wenn viele mitmachen, wird der Sinn für die Ungeheuerlichkeit geschärft, die ein “neues Normales” entstehen lässt. Es lohnt darüber nachzudenken: Was sind die jeweiligen Einzigartigkeiten, mit denen eine ganze Gesellschaft in die jeweils neue Ungeheuerlichkeit schlittert. Die Geschichte kennt viele Beispiele, von denen jedes auf dem Weg zum Ungeheuerlichen und im Ungeheuerlichen seine Einzigartigkeit besitzt. Es gilt den jeweils einzigartigen Weg in die Ungeheuerlichkeit rechtzeitig zu erkennen.
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Rowohlt, 1996.