Stammzelltherapie des Diabetes: Das Versagen der Wissenschaft, der universitären Pressearbeit und des Wissenschaftsjournalismus

von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Peter Paul Nawroth

Am 28. Mai konnte man bei NextShark lesen: “Chinese scientists cure diabetes using stem cells in world first. Diese Pressemitteilung bezieht sich auf eine Arbeit in Cell Discovery (doi.org/10.1038/s41421-024-0662-3), die ich auch in einem Kurzbeitrag im focus online besprach. Was sind die Fakten?

Pressemitteilung: “Chinese scientists cure diabetes using stem cells in world first.” (www.yahoo.com/news/chinese-scientists-cure-diabetes-using-205304771.html?guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xILmNvbS8&g….)

Es wird ein 59-jähriger Patient beschrieben, der schwer unter den Folgen des Typ 2 Diabetes litt. Er hatte durch den Diabetes ein Nierenversagen und war zuvor nierentransplantiert worden. Da seine Zuckerwerte in extrem hohe und gefährlich niedrige Werte pendelten, die eventuell seine transplantierte Niere gefährden könnten, entschloss man sich, zu einem experimentellen Therapieversuch: Es wurden aus dem Blut Stammzellen gewonnen, die im Reagenzglas mittels Wachstumsfaktoren so umdirigiert wurden, dass sie die Eigenschaften von Insulin-produzierenden Zellen annahmen. Diese Zellen wurden ausführlich getestet, bevor man sich entschloss, sie in die Leber des Patienten einzubringen. Dort nisteten sie sich ein. Nach nur wenigen Wochen war der Blutzucker stabilisiert, der Insulin-Bedarf sank und das Insulin konnte 11 Wochen nach der Transplantation abgesetzt werden. Nach 48 Wochen konnten Acarbose und nach 56 Wochen Metformin abgesetzt werden – beides Medikamente, die den Blutzucker regulieren. Auch nach 116 Wochen arbeiteten die transplantierten Zellen.

Was ist die wissenschaftliche Neuigkeit für die Diabetologie?

Neu ist, dass zum ersten Mal ein Patient mit Typ 2 Diabetes mit Stammzellen therapiert wurde, die auf diese Weise hergestellt waren und 116 Wochen nachbeobachtet wurde.

Was ist für die Diabetestherapie schon lange bekannt?

Es werden seit vielen Jahren ganz verschiedene Methoden erprobt, Patienten mit Typ 1 Diabetes durch insulinproduzierende Stammzellen von der Insulin-Pflicht zu befreien. Also ist der Versuch, den Blutzucker mit Hilfe von Insulin-produzierenden Zellen einzustellen nicht neu.

Was ist der Wissenschaftsskandal?

Die Pressemeldung spricht von „Chinesische Wissenschaftler HEILEN Diabetes“. Was muss man verlangen, wenn man behauptet, Diabetes Typ 2 heilen zu können?

Der erhöhte Blutzucker ist nur ein Teilaspekt des Diabetes Typ 2. Anders als beim Diabetes Typ 1, bei dem körpereigene Zellen die insulinproduzierenden Zellen zerstören, liegen beim Typ 2 Diabetes viele verschiedene Störungen gleichzeitig vor. Dazu zählen bei einigen Patienten (nicht allen!) ein schlechtes Ansprechen der Zellen auf Insulin (Insulinresistenz), eine Fettstoffwechselstörung, oft Übergewicht, ein Blut-Hochdruck und andere Störungen. Zusammen führen diese Störungen zu etlichen Erkrankungen, die gehäuft bei Diabetes Typ 2 auftreten. Dazu zählen Erkrankungen der Augen, der Nieren, der Nerven, der Lunge, der Leber, Herzinfarkt, Schlaganfall. Aber es gibt auch psychische Folgeschäden und vieles mehr.

Ziel der Diabetes Typ 2 Therapie und damit Voraussetzung für die Rede den Diabetes Typ 2 heilen zu können, ist die Verhinderung dieser verschiedenen mit Diabetes Typ 2 assoziierten Erkrankungen. Und da der Diabetes Typ 2 keine reine Zuckerkrankheit ist, fällt der Effekt einer verbesserten Blut-Zuckereinstellung geringer aus, als gedacht. Die absolute Risikoreduktion einer besseren Blutzuckereinstellung auf mit Diabetes assoziierte Erkrankungen liegt bei 0-5 % (je nach untersuchter Folgeerkrankung). Also nicht gerade überwältigend.

Was zeigte die hier besprochene Arbeit aus China? Nur die Herstellung normaler Blut-Zuckerwerte – sonst nichts! Kein Hinweis auf eine Verbesserung der Nerven-, Nieren-, Augen-, Gefäßfunktion, obwohl der Patient 116 Wochen nachbeobachtet wurde. In der Zeit hätte man diese Parameter untersuchen und veröffentlichen können. Also ist die Pressemitteilung in diesem Punkt weit über das Ziel hinausgeschossen!

Aber es gibt noch einen Punkt, der in dieser Pressemitteilung nicht stimmt: Es wird allgemein von DIABETES heilen gesprochen. Also eine Möglichkeit, allen Patienten mit Diabetes helfen zu können. Doch dieser Patient ist keineswegs ein typischer Patient mit Typ 2 Diabetes. Er hatte zuvor ein Nierentransplantat erhalten und nimmt daher Medikamente, die das Immunsystem still legen. Daher wäre es korrekt gewesen, die Pressemitteilung hätte dies nicht nur „nebenbei“ im Text erwähnt, sondern diese besondere Situation dem Leser verdeutlicht. Nur dann hätte niemand schreiben können:

“This breakthrough, achieved after over a decade of research, offers hope for diabetes patients worldwide…..” Ehrlich und exakt wäre eine wenig sensationelle Meldung herausgekommen: „Bei einem Patienten mit Typ 2 Diabetes und Nierentransplantation half eine Transplantation von Stammzellen, die Insulin herstellen, den Blutzucker eine Zeit lang zu normalisieren.“ Doch diese Mitteilung hätte niemanden interessiert. Also Aufgabe wissenschaftlicher und journalistischer Prinzipien für eine reißerische Meldung? Ist das nicht ein Skandal, der benannt werden muss? Wie kommt es immer wieder zu solchen Problemen?

Wie funktioniert die Weitergabe von Forschungsdaten an die Öffentlichkeit?

Es ist üblich, dass Wissenschaftler ihre Ergebnisse erst zur Begutachtung vorlegen. Dafür schreiben sie ein Manuskript und senden es an eine wissenschaftliche Zeitschrift. Diese schickt die Arbeit an Experten aus dem Feld zur Begutachtung. Diese überprüfen, ob alle Standards guter Forschung eingehalten wurden und die Aussagen mit den erhobenen Daten übereinstimmen. Nach erfolgreicher Begutachtung wird die Arbeit veröffentlicht. An dem Punkt angelangt, entsteht ein Kontakt zwischen der Pressestelle des Forschungsinstitutes und den Wissenschaftlern. Man arbeitet gemeinsam an einer Pressemitteilung. Die Pressestelle ist üblicherweise dem Vorstand zugeordnet und hat zum Ziel, die eigene Forschungseinrichtung und die Forscher optimal der Öffentlichkeit zu präsentieren. Um das zu erreichen, wird ein Text formuliert, der die neue Erkenntnis in ein positives Licht rückt und möglichst viel Aufmerksamkeit erringen soll. Dieser Text wird dann weltweit an Journalisten versendet. Diese lesen den Text. Leider schauen nur ganz wenige Journalisten sich die Originalarbeit an, bevor sie aus der Pressemitteilung ihren eigenen Text entwerfen. So kommt es, dass plötzlich aus einer Mücke ein Elefant wird.

Statt zu schreiben, dass eine auf interessante Weise hergestellte insulinproduzierende Zelle bei einem ganz besonderen Patienten den Blutzucker normalisierte wird geschrieben: Heilung des Diabetes und Hoffnung für alle Diabetiker. Das ist ein Versagen der Pflege der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Tragik: Das ist kein Einzelfall, keine Ausnahme, sondern wird mehr und mehr zur Routine. Die Sucht nach Aufmerksamkeit siegte über ehrliche Berichterstattung. Ein böses Spiel mit der Hoffnung von Patienten auf Heilung von ihrer Erkrankung!

Wie kann man das Problem lösen?

Es gibt nur einen Weg: Der Wissenschaftsjournalismus muss aufgewertet werden. Zuerst in den Forschungsinstituten und Universitäten, dadurch dass er ähnlich der Ethikkommission unabhängig von Vorstand zur Pflege der Schnittstelle Wissenschaftler – Öffentlichkeit hochgerüstet wird. Dies erfordert neben der Loslösung von der Unternehmenskommunikation, die das Unternehmen in der Öffentlichkeit darstellt, gut ausgebildete, gut bezahlte Mitarbeiter mit der Verpflichtung präzise und wahrheitsgetreu zu berichten. Die Mitarbeiter der Presseabteilung müssen beauftragt werden, nur als Clearingstelle zwischen Hoffnung und überoptimistischer Selbsteinschätzung der Wissenschaftler und den tatsächlichen Ergebnissen zu wirken. Die Darstellung der Unternehmenserfolge obliegt in dieser Organisation dann nur noch der Unternehmenskommunikation, aber nicht mehr der Pressestelle. Nur dann können sich Journalisten, die in den verschiedenen Medien tätig sind, auch auf diese Mitteilungen verlassen.

Dadurch wird es viel seltener „Sensationen“ geben, seltener Erfolgsberichte aus der Forschung. Aber dafür werden die Berichte stimmen und wirklich für Menschen relevant sein. Die Bürger werden spüren, dass Fortschritt langsam ist und es viel Geld und viel Zeit benötigt, bis ausreichend Daten vorhanden sind, um einen wirklichen Fortschritt zu melden. Wenn es um Gesundheit, geht taugen die Formate nicht, die beim Fußball und den Ankündigungen der Spieler funktionieren („Heute hauen wir einen raus“). Wenn es um Gesundheit geht, muss die Auswirkung auf den Patienten so präzise beschrieben sein, dass keine falsche Hoffnung erweckt wird. Das geht nur, wenn ausschließlich die Richtigkeit der Berichterstattung bedeutsam ist und Imagepflege, kommerzielle Interessen, Eitelkeit und was sonst noch hineinspielen mag, beiseite gedrängt sind.

Letztlich wird die Berichterstattung über den mühsamen Weg der Forschung, auch Vorbild für eine fakten-basierte Diskussion in der Öffentlichkeit. Die kritische Frage: Kann es sein, dass populistisch, anderen Zielen als der Wahrheit untergeordnete Berichte aus der Medizin die Negativblaupause für Populismus sind?

 

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