Wie man das Problem der Wissenschaftlichkeit in der Medizin lösen kann: Keine „Scientia locuta – causa finita“, sondern ein Märchen – Teil 5

von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Peter Paul Nawroth

In Teil 1-4 wurde das Wesen der Wissenschaft als einer hinterfragenden Disziplin, das Wesen des Wissens als unscharf und das Wesen einer zukunftsweisenden Diskussion als einander zuhörend und ergebnisoffen beschrieben. All das wird gefährdet, wenn Menschen glauben, dass es das absolut richtige, immerwährende Wissen gäbe, auf das sie ihre Argumentation stützen könnten. Es wurde aufgezeigt, dass ein Bestehen auf einer einzig richtigen Meinung, die angeblich durch die Wissenschaft gesichert ist, einer Gesellschaft ihre Zukunftsfähigkeit ebenso nimmt, wie ihren Zusammenhalt, Chancengerechtigkeit und Diskursfähigkeit. Was eine Verschwendung von Qualität, wenn im Bundestag verkürzte Argumente ausgetauscht werden, die auf die 5-10 Sekunden Aufmerksamkeitsspanne in den Fernseh-Nachrichten ausgerichtet sind! Die öffentliche, auch die Bundestagsdebatte, verkommen immer öfter zu einer Talkshow, in der nur die Lufthoheit, die Lautstärke, die geschickte und möglichst auch witzig-diffamierende Argumentation zählen. Selten, aber manchmal doch, gibt es Debatten auf einem sehr hohen Niveau, vor allem dann, wenn der Fraktionszwang aufgehoben ist. Die Kapazität, das Können, das Wissen sind vorhanden, um gegenteilige Argumente auszutauschen und das eigene Argument nicht dem anderen an den Kopf zu werfen, sondern es zu begründen. Also lautet die Aufgabe:  Von der Wissensgesellschaft zu einer Gesellschaft der Begründung, der Suche nach Beweisen!  Von der Unverrückbarkeit des „Wissens“ zur Dynamik der Herleitung eines Beweises!  Von der Starre des Glaubens an Beweise zur Bereitschaft mitzudenken, zu hinterfragen und anders zu denken.

  1. Die Kraft, die aus einer Beweisgesellschaft erwächst

Was wäre, wenn die öffentlich-rechtlichen Fernseh-Anstalten ihre Talkshows durch permanente Überprüfungen der Qualität eines Argumentes und dem Herleiten eines Beweises ergänzen würden? Nicht durch einen simplen Fakten Check, der zu oft nur die Mehrheitsmeinung wiedergibt, sondern durch eine echte Überprüfung der Interpretation und Bewertung von Daten. Das würde funktionieren, wenn zum Beispiel bei einer Debatte über die Einführung einer Zuckersteuer, jeder der Teilnehmer im Vorfeld die von ihm als Begründung zitierten Publikationen dem Sender mitteilt. Dann könnte immer wieder die entsprechende Abbildung aus der Publikation eingeblendet werden, auf die der Diskutant sich beruft. Dies würde den Zuschauern die Möglichkeit geben, selber die Daten zu sehen und deren Interpretation zu verstehen. Sie müssten nicht der Interpretation eines Meinungsbildners glauben. Das Argument, dass der „ungebildete Zuschauer“ dies nicht versteht ist falsch! Wissenschaft kann einfach erklärt werden, wenn der Wissenschaftler ausreichend kundig ist und nicht in ideologischen Kategorien, sondern selber in der Herleitung von Beweisen denkt.

Das schafft Vertrauen! Zuschauer würden beim Zuhören nicht aussteigen, aber einige der in Talkshows auftretenden „Experten“ würden sich der Lächerlichkeit preisgeben, würden sie gezwungen, ihre Aussagen dadurch zu belegen, dass sie die Daten offenlegen, die zu ihren Aussagen führen.

Das Ergebnis wäre Vertrauen. Es würde den Zuschauern das Gefühl geben, selber die Dinge zu verstehen und nicht einer unverständlichen Welt ausgeliefert zu sein. Vertrauen ist nötig, um in aller Ruhe gewissenhaft Argumente auszutauschen und einander zuzuhören. Aus vermeintlich sicherem Wissen („Zuckersteuer macht bewiesenermaßen Menschen gesünder“), wird sofort ein Wissen um die Grenzen der angeblichen Beweise. Aus der Talkshow, die von der Unterhaltsamkeit  (und nicht dem Wahrheitsgehalt) des Argumentes lebt, wird ein sachlicher Dialog über die Frage, was man angesichts der vorhandenen Unwissenheit tun könnte. Man würde für die gegenteilige Meinung offen sein und vielleicht feststellen, dass man bessere Studien finanzieren muss, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Offenheit für gegenteilige Meinung erleichtert das Finden auch ganz anderer Lösungswege:

Man könnte diskutieren, ob die Lösungen für Erkrankungen immer aus dem Beritt der Medizin kommen sollen. Ein Diskutant könnte dann eine Studie vorstellen, die zeigt, wie erfolgreich eine soziale Intervention bei der Bekämpfung des Übergewichtes ist. Die Folge wäre eine Diskussion über die Wirksamkeit von Gesundheits-, Sozial- und Bildungspolitik, im Vergleich zur klassischen Gesundheitspolitik, im Vergleich zu teuren Medikamenten, Ernährungsberatung etc. Eine Diskussion, die die vielen verschiedenen Kontexte in denen Menschen leben, viel besser repräsentieren würde, als die üblichen Streitereien um Zuckersteuer „ja“ oder „nein“. Bei den Streitereien schreit jeder möglichst laut „Scientia locuta – causa finita“ und meint nicht etwa die Wissenschaft, sondern sein eigenes Verständnis von dem, was „Die Wissenschaft sagt …“. In Wirklichkeit bedeutet Scientia locuta nichts anderes als: Ich möchte meinen Teil vom Kuchen im Gesundheitssystem verteidigen.

Solch ein Ringen um Beweise, unter Berücksichtigung des Nicht-Wissens, wird die Gesellschaft weder spalten, noch entfremden. Solch ein abwägendes Ringen gibt dem Zuhörer das Gefühl, ernst genommen zu werden.

  • Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass „Die Wissenschaft“ weniger weiß, als man dachte.
  • Es entsteht Vertrauen in die Ehrlichkeit der Argumentation.
  • Es entsteht Achtung für den abwägenden, langsamen Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisverbesserung.

Daraus erwächst Achtung für Ärzte und Politiker, die angesichts des Unwissens die Verantwortung für einen Lösungsweg übernehmen und die die notwendige Bereitschaft zeigen, ihre Meinung jederzeit zu ändern, wenn ein neues Argument besser ist, als das alte. Das ist das Gegenteil von „klare Kante“. Aber genau dieses Vorgehen, dieses Zugeben der Schwäche des eigenen Argumentes, schafft das Vertrauen, das notwendig ist, um in Freiheit zu leben. Vertrauen auf die Kraft der Vielfalt ist nötig, um die Chancengerechtigkeit zu wahren, von der der gesellschaftliche Zusammenhang abhängig ist.

 

  1. Das Märchen von der positiven Macht künstlicher Intelligenz

 

Eigentlich sind wir es leid, in einer Gemeinschaft zu leben, in der das Argument durch den talkshowartigen Zirkus ersetzt wird. Eigentlich will jeder lieber nachdenklich zuhören und etwas für sich mitnehmen, als zu spüren, dass es um die Lufthoheit in einem modernen Circus maximus der Lautstärke, des Wortwitzes und der geschickten Lüge geht. Und tatsächlich lässt sich eine Vision als Märchen formulieren, die genau diesen Wunsch erfüllt:

 

Märchen Teil 1: Eine Firma entwickelt eine „starke und allgemeine KI“, die alle Politiker, Journalisten und Wissenschaftler, die gerade in der Öffentlichkeit auftreten und deren Reden in den Parlamenten, Talkshows und Nachrichten bestreiten, durch KI gesteuerte Avantare ersetzt. Da diese KI alles genauso gut kann, wie die Originale, gibt es für die Originale nichts mehr zu tun. Ihr altes Tätigkeitsfeld ist von der KI ersetzt worden. Herr Lauterbach, Herr Drosten und all diejenigen, die man immer wieder sieht und hört, sitzen zu Hause und haben nichts mehr zu tun. Sie schalten den Fernseher ein und beobachten ihre Avantare.

 

Märchen Teil 2: Die freigesetzten und in ihrer alten Rolle unnötig gewordenen Menschen sind in Wirklichkeit sehr fähig. Sie können ohne Arbeit nicht leben. Also suchen sie nach einer neuen Aufgabe. Es muss eine Aufgabe sein, die die neue KI mit ihren Avantaren nicht lösen kann. Sie denken nach. Sie denken lange nach. Sie denken erfolgreich darüber nach, was nur sie können, aber die KI mit ihren Avantaren, die nur die bisherige Rolle der „Die Wissenschaft sagt uns …“ Protagonisten nie leisten wird:

 

Sie sehen ihre neue Rolle darin, die Menschheit nicht zu opfern:

  • Weder der neuen KI, mit den Avataren, die nur das machen, was sie früher selber taten,
  • noch dem stupiden „Die Wissenschaft sagt uns …“,
  • noch dem Framing von Zahlen, um sie berufspolitischen Dogmen anzupassen.

Sie wissen, dass die KI mehrere Probleme hat:

  • Ist in einem Algorithmus eine Fehlannahme enthalten, wird der Fehler durch die Rechenprozesse potenziert.
  • Es fällt einer auf alles Wissen zugreifenden KI schwer, Mehrheit und Meinung von Wahrheit zu unterscheiden. KI weiß alles über Verfügbarkeit von Information, aber versteht nicht den Inhalt und die Begrenzung des Wissens.
  • Eine KI ist unfähig, das komplette Mensch Sein zu erfassen, denn die in gesellschaftlichen Kontexten sich wandelnden Prinzipien und Werte kann sie in ihrer Dynamik nicht widerspiegeln.

Die arbeitslos gewordenen Politiker und bisher als Aktivisten tätigen Wissenschaftler widmen sich ihrer neuen Aufgabe:

Märchen Teil 3: Sie beginnen Bewertungen der Aussagen der KI vorzunehmen und dabei die Qualität der Herleitung eines Beweises zu überprüfen und dessen Folgen zu bedenken. Nur Menschen können menschlich und kritisch über die sich dynamisch entwickelnden Werte und Menschlichkeit nachdenken. Nur Menschen können die Qualität und Umfänglichkeit eines Beweises überprüfen. Es entsteht eine neue Elite, die die Aussagen ihrer KI-Avantare nicht nur anhand der Beweiskräftigkeit (unabhängig von Mehrheitsmeinungen) überprüft, sondern sie an dem spiegelt, was Menschlichkeit und Humanität ausmacht. Dieses „Anleinen“ von KI an Humanität und Menschlichkeit hat zwei Voraussetzungen:

 

  • Die Bildung, also Erwerb der Fähigkeit und Freude am eigenständigen Nachdenken.
  • Kenntnis über den Unterschied zwischen Information und Wissen, zwischen Wissenswidergabe und Verstehen.
  • Die Freiheit, um in einer auf Beweisbarkeit gegründeten Gesellschaft, den eigenen Verstand zu nutzen, um Werte und Prinzipien des Menschlichen und Humanen zu erneuern, zu ergänzen und zu leben.

 

Dies ist eine riesige Chance für kluge Menschen. Es ist ein optimistischer Blick in die Zukunft. Es ist die Befreiung der Menschen von der jetzigen Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in der es um Lufthoheit, aber nicht um Wahrheit geht. Es ist die Neuausrichtung auf die Beweisbarkeit und die Bedeutung für die Werte und Prinzipien einer humanen Gesellschaft. Es bedeutet die Schaffung eines Raumes für das, was Menschen auszeichnet und KI nie leisten kann: Kultur und Menschlichkeit vermehren.

 

Betrachtet man diese Vision aus einer globalen Perspektive bedeutet dies: Die freien Gesellschaften, denen es gelingt, die Wahrheitssuche im Zusammenhang mit Menschlichkeit wieder wichtiger werden zu lassen, als den Kampf um Mehrheiten, werden sich vor konkurrierenden totalitären Systemen nicht fürchten müssen. Die Gesellschaft, die das vorhandene menschliche Potential klüger, vertrauensvoller und humaner für sich nutzt, wird in einer Zeit der KI gesteuerten Verfügbarkeit des Wissens, die erfolgreichere Gemeinschaft sein, da sie Menschen für das einsetzt, was nur Menschen können: In Kontexten von Werten innovativ und human denken. Insbesondere in der Medizin!

 

 

Disclaimer

Für die Richtigkeit der Aussage in Bezug auf Ihre Gesundheit oder mögliche Missverständnisse kann keine Haftung übernommen werden. Daher ersetzen die Aussagen auf dieser Seite nicht das persönliche Gespräch mit Ihrem Arzt, Apotheker oder Therapeuten. Bitte handeln Sie daher nicht, bevor Sie Ihren Arzt oder Therapeuten befragt haben.